Die Zukunft des Einzelhandels – Interview mit einem Einzelhandelsvisionär
Einzelhandelsvisionär, Keynote-Speaker und Autor Howard Saunders macht zwei entscheidende Ereignisse zwischen 2007 und 2008 dafür verantwortlich, dass sich der Einzelhandel und unser Kontakt mit Einzelhändlern für immer veränderten. Das eine warf die Weltwirtschaft um Jahrzehnte zurück, das andere gab uns einen rechteckigen Block aus schwarzem Glas in die Hand, mit der wir Zugriff auf das gesamte Wissen der Menschheit erhielten.
„Urplötzlich konnten wir auf praktisch alles zugreifen, und jeder hatte mit einem Mal zu allem eine Meinung“, so Saunders. „Damit ist unsere Erwartungshaltung enorm gestiegen und Einzelhändler gerieten unter Druck, um unsere Ansprüche zu erfüllen. Wir verlangen jetzt von allem nur das Beste.”
Der Aufstieg des unabhängigen Geschäfts
„Charlie Chaplin war vermutlich einmal der reichste und mächtigste Mann der Welt, und er hat am Stummfilm festgehalten, weil er ihn für den Höhepunkt künstlerischen Ausdrucks hielt“, sagt Saunders. „Innerhalb weniger Jahre wurde er dadurch von einem wohlhabenden und berühmten Mann zu einer Art Dinosaurier. Alle wussten, dass Tonfilme die Zukunft waren, aber er sah das anders. Mit dem Einzelhandel verhält es sich ähnlich.“
In den letzten 50 Jahren wurde unser Einkaufsverhalten durch den Aufstieg der Supermärkte geprägt. Das moderne Selbstbedienungskonzept wurde als ultimative Verbraucherfreundlichkeit angepriesen und vermarktet, doch es hat maßgeblich zum Untergang der kleinen Geschäfte beigetragen. Saunders ist jedoch davon überzeugt, dass sich das alles bald ändern wird. „Dieses Einkaufsmodell hat uns unseren Gemeinschaftssinn genommen“, erklärt er. „Mittlerweile wünschen sich die Menschen genau diese Nähe von früher beim Einkauf – die persönliche Note. Der Aufschwung kleiner, unabhängiger, lokaler Geschäfte stützt diese Theorie.“
Geschäfte, wo Menschen sich gern aufhalten
„Der Aufstieg der unabhängigen Geschäfte zeigt, dass Kunden sich vom Einzelhandel Interaktion und Informationen wünschen“, meint Saunders. „In Supermärkten und Kaufhäusern bekommen wir zwar Waren aller Art, aber mittlerweile wollen wir mehr als blinden Konsum – wir wünschen uns nachhaltige und fair gehandelte Produkte, die uns auf ansprechende und informative Weise von einem menschlichen Gegenüber angeboten werden. Wir wollen wissen, woher unsere Waren stammen. Außerdem möchten wir andere an unseren positiven Erlebnissen beim Einkauf teilhaben lassen.“
Saunders hat viele Belege für seine Theorie parat, doch einer bleibt uns besonders in Erinnerung. „Starbucks hat vor Kurzem eine neue Kette von Filialen eröffnet, die so genannten Reserve Roasteries“, erzählt Saunders. „Der Schwerpunkt dieser Filialen liegt darin, den Kunden die Marke näherzubringen, indem sie mehr über den Kaffee erfahren, den sie dort konsumieren. In der zuletzt eröffneten Filiale in Mailand können die Gäste per Augmented Reality selbst sehen, wie die Bohnen geerntet werden, sie können die Bauern kennenlernen und so die Marke hautnah erleben. Die Roasteries sind bei den Kunden sehr beliebt, die dort nicht nur ihren Kaffee-, sondern auch ihren Wissensdurst stillen können.“
Gastfreundschaft als neuer Reiz des Einzelhandels
„Durch die gehäufte Interaktion mit digitaler Technologie haben wir erkannt, was wir uns von der Realität wünschen“, erklärt Saunders. „Und das ist der Kontakt zu anderen Menschen. Verständnis und Anbindung. Dafür müssen Einzelhändler eine Umgebung schaffen, in der sich die Kunden verstanden und respektiert fühlen.“
In Anbetracht dieser hohen Erwartungen und des Wunsches nach Verbundenheit haben wir Saunders gefragt, wir uns am besten für die Zukunft wappnen sollen. „Bei den großen Unternehmen ist bereits ein Muster zu erkennen. Sie geben sich enorme Mühe, um auf ihre Kunden gastfreundlich und zuvorkommend zu wirken“, meint Saunders. „Mitarbeiter heißen ihre Kunden bereits am Eingang willkommen und entschuldigen sich für eventuelle Wartezeiten, selbst wenn es ganz schnell geht. Die Unternehmen, denen es gelingt, gleichzeitig ein einladendes Umfeld und eine einzigartige Erfahrung durch Technologie anzubieten, sind diejenigen, bei denen die Kunden in Zukunft einkaufen werden. Daher sollten Sie sich bei Veränderungen und Reformen vornehmlich auf diese Punkte konzentrieren.“
Auf Twitter können Sie sich mit Howard Saunders über die Zukunft des Einzelhandels austauschen: @retailfuturist